Veränderungsbereitschaft und Führungskompetenz sind nach Einschätzung deutscher Personalentwickler zwei der bedeutendsten Kompetenzen der Zukunft. Doch woher nehmen? Nur auf die Neueinstellung von Führungskräften und Mitarbeitern zu setzen, ist angesichts des leergefegten Arbeitsmarktes kaum machbar. Daher setzen Unternehmen verstärkt auf Tools für die interne Weiterentwicklung – aber klappt das auch bei Soft Skills?

Matthias Eireiner hat mit organ.io eine Plattform gegründet, die Führungsfeedback analysiert, konkrete Handlungsempfehlungen für die Nutzer gibt und auch die Fortschritte transparent macht. Ein Gespräch mit Martina van Hettinga, Managing Partner bei i-potentials, über geborene Anführer, schlechte Chefs und das ambivalente Verhältnis zwischen Mensch und Technologie.  

Wenn wir schonmal zwei Experten für Führungskräfte hier haben: Welchem Satz würdet ihr eher zustimmen? “Leaders are made, not born” oder umgekehrt: “Leaders are born, not made.”

Matthias: Weder noch. Leadership ist doch nichts Statisches. Der Anspruch an Führung verändert sich, von Organisation zu Organisation, aber auch mit der Zeit: Früher war Hierarchie ein wichtiges Führungstool, Macht und Verantwortung hingen komplett an einer Person. Heute sprechen wir eher von “shared leadership”, bei der Verantwortung und  Entscheidungspielräume auf die Mitarbeiter verteilt werden. Führung muss sich also immer weiterentwickeln und neu definieren, um für neue Situationen gewappnet zu sein.  

Martina: Ich denke, man muss unterscheiden zwischen Leadership als Führungsfunktion in einer Organisation und Leadership als persönliche Motivation, in einem Bereich etwas zu bewegen. Es gibt sicherlich bestimmte Eigenschaften, die Menschen früh entwickeln und die wir mit der Bezeichnung “born leader” verbinden. Aber man muss kein “geborener Anführer” sein, um eine gute Führungskraft zu werden.

Matthias, ihr habt mit organ.io eine Plattform für die Verhaltensanalyse und Weiterentwicklung von Führungskräften entwickelt. Macht Technologie Menschen wirklich zu besseren Führungskräften?

Matthias: Nein, aber Feedback macht Menschen zu besseren Führungskräften. Das Problem ist, dass ehrliches Feedback so schwer zu bekommen ist, weil wir das Verhalten von anderen immer in Bezug auf uns selbst bewerten. Da kommt die Technologie ins Spiel: Über die Plattform trennen wir die Identifikation von Verhalten und die Bewertung dieses Verhaltens. Daraus leiten wir konkrete Handlungsempfehlungen ab und können auch tracken, ob sie umgesetzt werden. 

Davor hast du FinReach gegründet, wie kommt man nach FinTech auf Leadership als Geschäftsidee?   

Matthias: Als Gründer habe ich mich sowieso mit dem Thema auseinandergesetzt, es ist für mich zur Passion geworden. Zumal ich bei unseren FinReach-Kunden gesehen habe, wie herausfordernd das Thema Führung noch wird, wenn sich Unternehmen agil und wettbewerbsfähig aufstellen wollen. Wir sprechen in der Wirtschaft gerade sehr viel über Technologie, aber die beste Technologie bringt nichts, wenn die Mitarbeiter nicht mitziehen. 

Martina, als Personalberaterin prüfst du regelmäßig Kandidaten für Führungsposten auf ihre Eignung. Glaubst du Technologie kann dabei helfen, individuelles Führungsverhalten zu verbessern? 

Martina van Hettinga Managing Partner i-potentialsMartina: Sie kann zumindest den Zugang zur individuellen Weiterbildung in dem Bereich erleichtern. Ich halte das von Matthias erwähnte Thema der Bewertung für sehr wichtig: Wir werfen hierzulande ja gerne mit Labels wie “guter Chef/schlechter Chef” um uns, was die Unsicherheit nur noch größer macht – gerade unter den reflektierten und offenen Persönlichkeitstypen, die eigentlich ideale Voraussetzungen für eine Führungsrolle in einem modernen Unternehmen mitbringen. Wenn eine Plattform Unternehmen so dazu bringt, aktiv an ihrer Führungskultur und den Lernfortschritt bei einem so vagen Thema wie Soft Skills greifbar zu machen zu arbeiten, dann ist das ein großer Gewinn. 

Gibt es aus eurer Sicht also gar keine “schlechten” Führungskräfte?  

Matthias: Meiner Meinung nach steht es mir nicht zu Führungskräfte zu beurteilen. Unsere  Erfahrung ist, dass es viele Führungskräfte gibt die sich selbst die Frage stellen, wie sie ihre Aufgabe noch besser machen können. Und auf diese Personen, die an sich selbst arbeiten wollen, um besser zu werden, um sich persönlich weiterzuentwickeln und in ihrer Organisation einen Mehrwert zu stiften, auf die konzentrieren wir uns. Deshalb ist organ.io auch eine reine Development-Platform und kann nicht an Performance Reviews geknüpft werden. Der Nutzer kann sich “austoben”. Nur er selbst kann alle Daten transparent einsehen und muss sich nicht darum sorgen, dass sie eventuell später “gegen ihn” verwendet werden. Es geht um eine positive Veränderung im Einklang mit der eigenen Persönlichkeit, nicht um erzwungene Umerziehung. 

Martina: Genau, Lernfähigkeit und Veränderungsbereitschaft sind gerade jetzt strategisch wichtige Vorteile für ein Unternehmen, und das schließt die Führungsriege bis zum Vorstand mit ein. Solchen Führungskräften gehört die Zukunft und in die sollten Unternehmen investieren – nicht in die Umerziehung von Menschen, die sich nicht verändern wollen. 

Ihr beide arbeitet an den Schnittstellen zwischen Menschen und Technologie. Welcher Faktor entscheidet die digitale Transformation – Mensch oder Maschine?

Martina: Technologie “passiert” ja nicht einfach, wir Menschen entwickeln sie. Daher müssen wir auch an uns arbeiten, wenn wir Technologie verantwortungsvoll einsetzen wollen.  

Matthias: Nur durch starke Leadership können wir Ängste gegenüber Neuem ausräumen und Mitarbeiter ermutigen, die Möglichkeiten und Chancen neuer Technologien zu erkennen und zu nutzen und nicht bloß vermeintliche Risiken zu sehen. Technische Innovation und insbesondere deren Adaption fängt deshalb immer beim Menschen an. 

 

Interview Gast:

Matthias Eireiner ist Co-Founder bei organ.io. Bis 2018 führte er als CEO das Unternehmen FinReach, einen Software-Anbieter für Banken. Davor war er sechs Jahre Managementberater bei der Boston Consulting Group und Bain & Company, zuletzt als Manager. Als CTO hat er umfangreiche Erfahrung in Software-design und -entwicklung in früheren Positionen gesammelt. Matthias Eireiner ist promovierter Elektroingenieur.