“Den Status Quo niemals einfach hinnehmen” – Sebastian Hasebrink über seine Erfahrungen als Gründer und im Transformationsprozess
Vom Unternehmensberater zum Gründer und Intrapreneur: Sebastian Hasebrink gründete zwei Jahre nach seinem Studium das Unternehmen Juniqe.com, verantwortete als Chief Digital Officer (CDO) knapp vier Jahre lang Deichmanns digitale Transformation und ist seit Mitte April als Chief Customer Officer bei asambeauty tätig. Als Gründer und Manager befasst er sich seit Jahren intensiv mit dem Aufbau und der Skalierung digitaler Geschäftsmodelle. Im Gespräch verrät Sebastian, welche Herausforderungen auf Unternehmen warten, die digitale Geschäftsmodelle aufbauen und skalieren wollen, von welchen Faktoren der Erfolg schlussendlich abhängt – und welche Rolle zukunftsfähige Führung dabei einnimmt.
Du bist u.a. Gründer eines Ecom Pure Players und warst CDO in einem der großen deutschen Traditionsunternehmen. Wie und mit welcher Haltung bist Du an die jeweils ganz unterschiedlichen Herausforderungen herangetreten?
Sebastian: An beide Herausforderungen bin ich auf jeden Fall mit viel Zuversicht herangegangen. Rückblickend betrachtet war ich an der ein oder anderen Stelle auch durchaus etwas naiv. Wahrscheinlich war es gerade diese anfängliche Naivität, die mir auch zugute kam. Denn hätte ich gleich zu Beginn schon alle Stolperfallen und Herausforderungen gekannt, hätte mich das womöglich sogar lähmen oder in meinem Tatendrang einschränken können.
Für mich war und ist es zudem wichtig, meinen Gestaltungsspielraum unternehmerisch auszufüllen und weitreichende Veränderungen voranzutreiben. Wenn ich sehe, dass mir das gelingt, verleiht mir das einen richtigen Motivationsschub. Deshalb haben mir beide Aufgaben – so unterschiedlich sie auch sein mochten – sehr großen Spaß gemacht.
Wenn wir uns hier einklinken dürfen: Kannst Du berichten, was Du bei Junique und bei Deichmann bewegt hast?
Bei Juniqe mussten wir alles quasi von Null aufbauen und neu denken. Und natürlich mussten wir dann das Geschäft professionalisieren und skalieren. Hilfreich für mich war, dass wir im Gründer:innenkreis immer einen breiten Konsens zur Ausrichtung des Unternehmens hatten.
In dieser Hinsicht war meine Aufgabe bei Deichmann etwas anders. Dort habe ich mit meiner Digital-Brille in einem Unternehmen angefangen, das über Jahrzehnte hinweg aus guten Gründen erfolgreich war. Ich musste also von Beginn an viel stärker für meine Überzeugungen eintreten. Dieses Werben für den richtigen Transformationskurs und das Abstimmen der Leitplanken mit wichtigen Schnittstellen war neu für mich. Aber ohne ganzheitliche Abstimmung, das habe ich schnell gelernt, gelingt keine Transformation in solch einem Traditionsunternehmen. Das Digitalgeschäft ist schließlich nicht losgelöst zu betrachten, sondern als Teil unseres ganzheitlichen Omnichannel-Auftritts.
“Mein eigener Anspruch ist, dass meine Direct Reports mich als wertvollen Diskussions- und Sparringspartner sehen”
Deine Erfahrungswerte sind heutzutage für viele Führungskräfte wertvoll. Schließlich hat das Tempo von Innovation nochmal angezogen. Was ist Dein zentrales und wichtigstes Rüstzeug als Führungskraft und Unternehmer?
Sebastian: Das klingt jetzt wahrscheinlich banal, aber für mich ist es die Kombination aus fachlicher Digital-Expertise und Leadership-Kompetenz. Ich hab die Erfahrung gemacht, dass das Wissen, das ich mir vor allem im Rahmen meiner eigenen Gründung auf verschiedenen Ebenen aufgebaut habe, mir in der Führung von Mitarbeitenden wahnsinnig hilft. Mein eigener Anspruch ist, dass mich meine Direct Reports als wertvollen Diskussions- und Sparringspartner sehen. Dazu muss ich ausreichend tief in den Themen sein und schnell Zusammenhänge begreifen.
Darüber hinaus ist es wichtig, eine klare Richtung vorzugeben, und die gesamte Organisation an übergeordneten Zielen auszurichten. Das ist, wie ich festgestellt habe, gerade in größeren Organisationen viel leichter gesagt als getan. Bei Deichmann haben wir vor kurzem OKRs pilotiert und damit an vielen Stellen positive Erfahrungen gemacht. Seitdem bin ich Fan dieses Ansatzes. Um vielleicht noch ein Werkzeug zu nennen, an das ich total glaube: Direktes, ehrliches und respektvolles Feedback – unter Peers genauso wie zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten. Ehrlich gesagt, wundert es mich, dass es immer noch recht viele Unternehmen zu geben scheint, die nicht konsequent darauf setzen. Der Fairness halber sollte ich sagen, dass ich in meinen ersten Gründungsjahren einen eher intuitiven Leadership-Ansatz hatte und mich heutzutage viel bewusster mit Führung befasse, auch in Zusammenarbeit mit einem Coach.
“Den Status Quo niemals einfach hinnehmen”
Und für Dich ganz persönlich: Was sind rückblickend Deine Key-Learnings und Erfolgsfaktoren?
Sebastian: Eine persönliche Erkenntnis ist auf jeden Fall, dass es für mich entscheidend ist, den Status Quo niemals einfach hinzunehmen. Fortschritt gelingt nur, wenn wir immer wieder neue Impulse setzen und gleichzeitig akzeptieren, dass Rückschläge normal sind. Manche Dinge sind kurzfristig einfach nicht zu ändern. Dafür bei aller Ungeduld immer wieder die richtige Balance zu finden, ist immens wichtig – sowohl bei der eigenen Gründung als auch in einem Transformationsprozess.
Abseits dessen ist es wahrscheinlich eine durchaus übliche Erkenntnis: Der Aufbau der richtigen Organisationsstrukturen und Teams erfordert Zeit und Kraft. Gerade am Anfang ist die richtige Organisationsarchitektur aber unbedingt erforderlich, um eine Aussicht auf langfristigen Erfolg zu haben. Bei Deichmann habe ich phasenweise über zehn Stunden pro Woche Interviews geführt – teilweise zusammen mit dem Projektteam von i-potentials. Das würde ich auch in Zukunft immer wieder so machen.
“Mehr Fokus auf die menschliche Komponente des Change Managements”
Hand aufs Herz: Wenn Du nun auf Deinen bis dato beachtlichen Karriereweg zurückblickst: Was würdest eventuell anders oder früher entscheiden als Du es getan hast?
Sebastian: Darüber denke ich ab und an nach und komme immer wieder zu denselben zwei Punkten zurück:
Bei Roland Berger hatte ich gelernt, sehr gründlich zu arbeiten und Fehler unbedingt zu vermeiden, Stichwort „Zero-Defect-Mentality“. Ich verstehe total, wo das herkommt, wenn ich mir vor Augen führe, wie viel Geld Unternehmen für Berater zahlen. Mittlerweile bin ich mir aber sicher, dass es mir bei meiner eigenen Gründung gut getan hätte, häufiger mal mit einem pragmatischen Ansatz – einem MVP – ins Rennen zu gehen und dann zu sehen, was passiert. Je mehr ich mich mit agilen Prinzipien befasse, desto logischer scheint mir dieser Weg. Um ein Beispiel zu nennen, wie viel Zeit ich durch weniger Perfektionismus hätte sparen können: Ich hab in meinem selbst gegründeten Unternehmen unter anderem die Entwicklung unseres „Gallery Wall“-Features angestoßen und über viele Wochen eng begleitet. Und das Ganze nur, um am Ende festzustellen, dass wir das ehrlich gesagt an unseren Kundinnen und Kunden vorbei entwickelt hatten. Das würde mir heute in dieser Form nicht mehr passieren.
Zum zweiten Punkt: Wenn ich an meine Zeit bei Deichmann denke, dann komme ich im Nachhinein zum Schluss, dass ich in den ersten Monaten mehr Fokus auf die menschliche Komponente des Change Managements hätte legen sollen. Ich bin ein ziemlich rationaler Typ und hab mich stark darauf konzentriert, inhaltliche Quick Wins zu identifizieren, Maßnahmen einzuleiten, die Organisation umzubauen und einen ersten Entwurf für die Strategie zu entwickeln. Im Rückspiegel betrachtet wäre es glaube ich besser gewesen, gerade anfangs noch mehr Zeit mit meinen Mitarbeitenden zu verbringen, um ihre Perspektiven und Sorgen besser zu verstehen.
“Um als Unternehmen Schritt halten zu können, werden dezentrale Führungsmodelle wichtiger”
Ein gutes Stichwort. Führung und Team sind Key-Success-Factors: Was verstehst Du unter Führung der Zukunft? Und welche Trends oder Strömungen siehst Du?
Sebastian: Eine präzise Definition habe ich für mich auch noch nicht parat. Aber mir fallen ein paar Punkte ein, auf die Führung in Zukunft Antworten finden muss. Zum einen leben wir mehr und mehr in einer VUCA-Welt, also einer Welt geprägt von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Um als Unternehmen Schritt halten zu können werden dezentrale Führungsmodelle immer wichtiger, die Mitarbeitende noch mehr in die Pflicht nehmen, abgestimmte Outcomes eigenständig zu erreichen. Die oft zitierte Kombination aus Empowerment und Accountability beschreibt das, was gelingen muss, ganz gut. Der traditionelle Command & Control Ansatz scheint mir dazu jedenfalls kaum noch geeignet.
Zweitens verschiebt sich das Machtverhältnis zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden immer stärker zugunsten der Arbeitnehmenden. Allein die Zahl der unbesetzten Stellen spricht eine deutliche Sprache. Das bedeutet auch, dass Bewerbende und Mitarbeitende viel mehr von Führungskräften erwarten und fordern können als in der Vergangenheit. Die Toleranz gegenüber schwacher Führung läuft gegen null, das beobachte ich auch in meinem eigenen Bekannten- und Freundeskreis.
Und zuletzt: Zu führen wird in Zukunft ganz bestimmt noch mehr bedeuten als heutzutage: heterogene Teams zu managen, mit unterschiedlichen Präferenzen zu grundlegenden Fragen wie „Wo arbeite ich?“, „Wann arbeite ich?“ und „Wie viel arbeite ich?“. Wenn Ort und Zeit weniger relevant werden, dann wird das unter anderem auch bedeuten, dass Teams noch internationaler besetzt sein werden. All das erfordert einen neuen Stil von Führung. Das zeigt sich bereits in der aktuellen Pandemie. Auch vor diesem Hintergrund glaube ich, dass Führung noch mehr als bisher über Zielarbeit funktionieren muss.
“Ich glaube stark an eine ausgeprägte funktionale Spezialisierung und Kompetenz”
Was bedeutet dies für deine eigene Führung: Wie und nach welchen Grund- oder Ansätzen baust Du deine Teams beziehungsweise deine Organisation auf?
Sebastian: Ganz feste Grundsätze habe ich eigentlich nicht. Für mich hängt das Vorgehen von der Phase ab, in der sich das Unternehmen gerade befindet und von den aktuellen Umständen. Wichtig sind mir zuallererst große Lernbereitschaft und Lernfähigkeit, zusammen mit einem natürlichen Drive. Gerade in der Zusammenstellung eines Teams ist es allerdings ratsam, nicht nur Talent einzustellen, das nach einem halben Jahr guter Arbeit im Unternehmen gleich ins C-Level will. Um es zugespitzt zu formulieren: Wenn du als Unternehmen nicht immer wieder die nächste „Growth Opportunity“ liefern kannst, ist es mit der Loyalität meist nicht so weit her. Das war bei Juniqe für uns immer wieder ein Thema. Außerdem lege ich wie gesagt inzwischen viel Wert auf die menschliche Komponente. Ich habe an einigen wenigen Stellen in der Vergangenheit fachlich super qualifizierte Leute eingestellt, die mich inhaltlich überzeugt hatten, bei denen ich aber menschlich Fragezeichen hatte. Das würde ich nicht nochmal so machen – ich habe dies in der Vergangenheit jedes Mal bereut.
Auf der Ebene der Organisation glaube ich stark an eine ausgeprägte funktionale Spezialisierung und Kompetenz. Viele Aufgabenbereiche sind mittlerweile so komplex, dass sie nur mit viel Expertise gemeistert werden können. Das bedeutet auch, dass diese Experten und Expertinnen in Workstreams und Projekten häufig funktionsübergreifend zusammengeführt werden müssen. Bestenfalls in interdisziplinären Teams, mindestens aber über gut definierte Schnittstellen. Dabei die Friktion zu minimieren, ist oft nicht einfach, aber gleichzeitig extrem wichtig.
“Diversity bedeutet Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Hintergründen und Perspektiven am Tisch zu haben.”
Abschließend noch eine ganz andere Frage: Was verstehst Du persönlich unter Diversity?
Sebastian: Für mich bedeutet Diversity zunächst einmal, Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen Hintergründen und Perspektiven am Tisch zu haben. Das ist uns besonders bei Juniqe gut gelungen. Denn wir hatten das Glück, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der ganzen Welt von uns zu überzeugen. Noch dazu deutlich mehr Frauen als Männer, was ja leider immer noch etwas ungewöhnlich ist. Ganz ehrlich, ich war lange Zeit kein großer Fan davon, Diversität bewusst als Kriterium für Stellenbesetzungen zu definieren. Noch immer denke ich in erster Linie meritokratisch. Wie clever, wie kompetent, wie motiviert sind die Kandidatinnen und Kandidaten? Wie können sie uns weiterbringen? Gleichzeitig bin ich für mich mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass “affirmative Action” zu einem gewissen Grade und für eine gewisse Zeit notwendig ist, um strukturellen Benachteiligungen, beispielsweise von Frauen, entgegenzuwirken. Das schafft letztlich Vorbilder und hilft zudem, Group Think zu vermeiden.